HIV-Therapie: Wir brauchen keine Kuschelmedizin!
Jeanne Turczynski stellt die Frage, ob es für Menschen mit HIV, die medikamentös richtig einge-stellt sind, überhaupt noch notwendig ist, viermal im Jahr oder öfter zum Facharzt zu gehen. Dabei geht es um antiretrovirale Therapie und Long Acting Regimes und wie diese langfristig die Arzt-/Patient-Interaktion verändern können.
Dr. Christoph Boesecke | Universitätsklinik Bonn
Dr. Annette Haberl | HIV-CENTER Frankfurt
Co-Chair: Alexandra Frings | Aidshilfe Aachen
Moderation: Jeanne Turczynski
Dr. Christoph Boesecke vertritt die Auffassung, dass es reiche, wenn HIV-positive Menschen, die therapeutisch gut eingestellt sind, ein bis maximal zweimal jährlich zum Routinelabor-Check in die Schwerpunktpraxis kämen. Dies sei ausreichend, um den Therapieerfolg zu messen, mögliche (Langzeit-)Nebenwirkungen festzustellen und gegebenenfalls Therapieregimes anzupassen sowie mögliche Komorbiditäten zu erkennen und zu behandeln. Eine engmaschigere Betreuung der Patient*innen sei unnötig zeitaufwändig, medizinisch nicht erforderlich und zudem wirtschaftlich unsinnig. 96 Prozent der Menschen mit HIV unter Therapie in Deutschland seien adä-quat supprimiert. Das sei im weltweiten Vergleich sehr, sehr gut und eigentlich gebe es da nicht viel zu tun. Das sei eine gute Grundlage dafür, diese Leute nur noch ein- bis zweimal im Jahr zu sehen und die Werte zu kontrollieren. Es gebe inzwischen sehr gute Therapien, zum Beispiel Ein-Tabletten-Regime, die sehr gut verträglich seien. Natürlich würden Menschen älter werden und erkranken, aber diese Erkrankungen speisten sich nicht mehr aus der HIV-Infektion. Es gebe viele Krebs- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die aber nicht mehr von dem/der HIV-Behandler*in therapiert werden müssten. Bisher müssten die Rezepte für die Medikamente einmal im Quartal neu ausgestellt werden. Mit den neuen langwirkenden Mitteln, die von den Betroffenen selbst zum Beispiel ins Fettgewebe injiziert werden könnten, seien problemlos längere Kontrollintervalle möglich.
Wenn die Kontrollen nur noch halb so oft wie bisher stattfänden, könnte eine Menge Geld ein-gespart werden, das an anderen Stellen dringend gebraucht werde. Zum Beispiel bei der PrEP-Versorgung für Männer, die Sex mit Männern haben. Das habe man jetzt bei den Affenpocken sehen können. Da seien viele junge Männer in die Praxen gekommen, die vielleicht mal etwas davon gehört hätten, aber noch nicht auf PrEP seien. Da gebe es in Deutschland noch eine „rie-sige Versorgungslücke“. Das werde zum Jahreswechsel sogar noch schlechter, weil dann die Ent-lohnung schwieriger werde und es für die Behandelnden finanziell deutlich unattraktiver sei, die PrEP anzubieten.
Zudem spare man Behandlungszeit, die man durch die zunehmenden Krisen wie Klimawandel und Krieg für Menschen brauche, die aus anderen Ländern nach Deutschland kämen.
Und man müsse sich um die Menschen kümmern, die bisher noch nichts von ihrer HIV-Infektion wüssten. 90 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen mit HIV wissen um ihre Infektion, aber immer noch zehn Prozent oder rund 10.000 Menschen wüssten nichts davon. Diese Men-schen haben das Potential, schwer krank zu werden oder sogar zu sterben. Daran habe sich seit 2006 nichts geändert, es gebe weiterhin eine große Zahl an Late Presentern. Dafür brauche man Zeit und Geld und nicht für Menschen, die unter einer HIV-Therapie gut liefen.
Geld werde zudem auch für Aufklärungskampagnen gegen Stigmata einer HIV-Infektion ge-braucht. Exemplarisch nannte Boesecke die „Wissen verdoppeln“-Kampagne. Auch die Sucht-prävention sei ein chronisch unterfinanzierter Bereich, der zusätzliche Mittel und Zeit in An-spruch nehme.
Dr. Annette Haberl erkennt zwar die errungenen Erfolge in der HIV-Therapie an, sagt aber, dass es auch darum gehe, dass Menschen, die mit HIV leben, eine gute Lebensqualität hätten. In den Sprechstunden gehe es nicht nur um die Viruslast, sondern zum Beispiel auch um sozioökonomische Faktoren. Es gehe manchmal schlicht um Geld, es gehe um Geschlecht und Alter, um Sex, Gender und um Komorbiditäten. Es gehe auch immer noch um HIV-bezogene Stigmatisierung und Diskriminierung, um Nachhaltigkeit, um einen ganzheitlichen Ansatz.
Zudem müssten die Begleiterkrankungen bei älter werdenden HIV-Patient*innen auch behan-delt werden. Boesecke möchte diese Patient*innen an die Hausärzt*innen verweisen. Gerade im ländlichen Raum sehe Haberl da aber ein Problem mit der sinkenden Zahl an Hausarztpraxen. Nicht wenige Patient*innen kämen zu ihr und erklärten: „Jetzt hat mein Hausarzt zugemacht und die Praxis im nächsten Ort nimmt überhaupt niemanden mehr an, die sind schon überlau-fen. Was mache ich denn jetzt? Und können Sie mir denn nicht erstmal meine Sachen weiter verschreiben und wir gucken dann mal?“ Das eben vor dem Hintergrund, dass Menschen mit HIV älter würden, mehr Begleiterkrankungen bekämen, mehr Sprechstundenzeit und jemanden bräuchten, der sie auch navigiere. Im Moment, so Haberl, sollten und müssten die HIV-Zentren diese Aufgaben wahrnehmen. Sie müssten zumindest ein bisschen hausärztlich tätig werden, entsprechende Fachärzt*innen benennen und sicherstellen, dass ihre Patient*innen gut versorgt seien. Sie wüsste nicht, wer das sonst machen sollte.
Haberl weist darauf hin, dass bei HIV-Therapien das Ärzt*innen-/Patient*innen-Verhältnis früher immer schon etwas Besonderes gewesen sei, und dies auch heute noch so sei. Viele ihrer Pati-ent*innen, die zum Gesprächstermin kämen, sagten, dies sei der einzige Raum, wo sie ganz offen über ihre Infektion sprechen könnten. Und anschließend führten sie wieder ihr Doppelleben mit der unglaublichen Sorge, dass jemand ihre Infektion entdecken könnte. Sei das dann schon „Kuschelmedizin" oder nicht eher ein patient*innenorientierter Ansatz? Und man könne ja auch mal die Patient*innen selber fragen, was ihnen denn wichtig wäre, ob sie gern mehr oder weniger Sprechstundenzeit in der Schwerpunktpraxis hätten.
Diese Frage reicht Moderatorin Turczynski an Co-Chair Alexandra Frings weiter. Diese sagt, dass sie aus der Community wahrnehme, dass es durchaus Menschen gebe, die froh wären, weniger oft zum Arzt zu müssen. Sei es, weil sie einen fordernden Job hätten oder weil sie im ländlichen Raum wohnten und lange Fahrwege auf sich nehmen müssten. Frings selber habe einen häufige-ren Bedarf, ihren Arzt zu sehen, da sie mit ihm auch viele Themen bespreche, die sie mit ihrer Gynäkologin nicht besprechen möchte. Außerdem wisse sie, dass es manchmal Nebenwirkungen gebe, die man als Patient*in selbst gar nicht bemerkt, die dann erst beim Screening im Labor-bericht festgestellt würden. Sie ist der Ansicht, dass die Frage nach der Häufigkeit der Sprechstundentermine sehr individuell beantwortet werden müsse.
Das sieht Boesecke ähnlich. Er erlebe bei sich in der Uni-Ambulanz ein breites Spektrum an Pa-tient*innen. Sie hätten in Bonn ein riesiges Einzugsgebiet aus dem Umland und es wisse, dass es oft viel Überwindung koste, zum Hausarzt zu gehen und um eine – aus abrechnungstechnischen Gründen notwendigen – Überweisung für die Uniklinik zu bitten und dabei als Grund eine HIV-Infektion angeben zu müssen; bei vielen Ohren vor und hinter dem Tresen und im Warteraum.
Andererseits gebe es, so Turczynski, ja auch manche – wie man bei der Kontroverse um die Long-Acting-Regimes gehört habe, die wollten gar nichts Besonderes mehr sein und möglichst wenig an ihre Infektion erinnert werden.
Boesecke bekräftigt, dass es wohl nur individualisierte Lösungen geben könne.
Auf die Frage, wie niedergelassene Ärzt*innen bei der Versorgung helfen könnten, hat ein Landarzt aus Zell an der Mosel, wo die nächsten HIV-Schwerpunktpraxen mit Koblenz und Trier jeweils rund eine Autostunde entfernt liegen, einen Vorschlag. Er plädiert dafür, diagnostizierte und unter Therapie stehende HIV-Patienten wieder an die Hausarztpraxen zurückzugeben. Er selbst habe versucht, Schwerpunktpraxis zu werden, doch die Hürden seien für ihn als 56-jährigen Arzt zu hoch. Bei PrEP sähe das anders aus, da reiche eine eintägige Hospitation aus um qualifiziert zu sein, die entsprechenden Medikamente zu verschreiben. Die Budgetierung spiele bei ihm keine Rolle, weil er mit drei Kolleg*innen ein Gebiet abdecke, in dem normalerweise acht Ärzt*innen eingeplant seien.