HAART: Macht die hochaktive antiretrovirale Therapie fett und depressiv?
Holger Wicht wundert sich in seiner Anmoderation über die These, dass die hochaktive antiretrovirale Therapie fett und depressiv mache, betont er doch als Pressesprecher der Deutschen Aids-Hilfe immer wieder, dass Menschen mit HIV heute dank dieser Therapie alt werden und in jeder Hinsicht leben können wie alle anderen. Und doch sagt Professor Dr. Jürgen Rockstroh, Leiter der HIV- beziehungsweise der infektiologischen Ambulanz am Universitätsklinikum Bonn, die Therapie habe Nebenwirkungen und Langzeitfolgen bis hin zum Tod. Siegfried Schwarze ist seit Jahrzehnten als Therapieaktivist bekannt und ist Molekularbiologe. Er sagt, dass die Therapie im Prinzip überhaupt kein Problem und alles nicht so wild ist, und dass Menschen mit HIV nicht viel anders leben als andere Menschen heutzutage. Als Co-Chair stellt Holger Wicht Harriet Langanke von der gemeinnützigen Stiftung Sexualität und Gesundheit (GSSG) vor, die die Diskussion um Therapie und Nebenwirkungen seit Mitte der 1990er Jahre mitverfolgt.
Prof. Dr. Jürgen Rockstroh | Uniklinik Bonn
Siegfried Schwarze | Projekt Information | Berlin
Co-Chair: Harriet Langanke | GSSG Köln
Moderation: Holger Wicht
Prof. Dr. Jürgen Rockstroh erklärt in seinem Impulsvortrag, dass man natürlich gehört habe, dass die Lebenserwartung von Menschen mit HIV jetzt fast wie bei der normalen Bevölkerung sei. Datenerhebungen aus der Schweiz bestätigten dies. In der Schweiz werde erfolgreich der überwiegende Teil aller Menschen, die mit HIV leben, schon über viele Jahre erfasst in einer Datentiefe, die fast einmalig sei. Durch die verbesserten Therapien sei die Lebenserwartung von Men-schen mit HIV inzwischen fast so hoch wie bei der Allgemeinbevölkerung. Eine dänische Studie komme gar zu dem Ergebnis, dass Menschen mit HIV sogar länger lebten, weil sie durch ihre Infektion regelmäßiger zum Arzt gingen und sich untersuchen ließen.
Allerdings gebe es Studien aus Südafrika, die aufhorchen ließen. Und diese Studien seien des-halb so relevant, weil sie die einzigen sind, die auch einen adäquaten Anteil von Frauen auf-nehmen, also über 50 Prozent der Teilnehmenden sind weiblich. Und laut diesen Studien nah-men afrikanische Frauen unter den neuen, mit weniger Nebenwirkungen verbundenen Integra-sehemmer-basierten Regimen im Vergleich zu Efavirenz im Verlauf von vier Jahren durchschnitt-lich zehn Kilogramm zu. Zehn Kilo machten bei sonst eher zierlichen afrikanischen Frauen von 50 Kilo schon einen Unterschied aus. Trotzdem hätten in Afrika nicht viele die Therapie abge-brochen, weil dort ein anderes Verständnis von Gewichtszunahme herrsche. HIV ist in Afrika verbunden mit der Vorstellung von Gewichtsverlust, man nenne das „slim desease“. Also wer abnehme, sehe eher krank aus, wer zunehme, wirke eher gesünder. Die Männer haben laut diesen Studien etwas weniger zugenommen, aber doch auch signifikant zugelegt.
Diese Ergebnisse hätten eine viele Diskussionen und zahlreiche Publikationen zum Thema Gewichtszunahme unter HIV-Therapie ausgelöst. Eine jüngere Studie aus den Niederlanden zeige, dass einer von zehn Patienten, deren Viruslast unter der Nachweisgrenze liege und die zu Teno-foviralafenamid (TAF) oder Integrasehemmern gewechselt sind, innerhalb von zwei Jahren zehn Prozent Gewicht zugenommen habe. Dabei müsse man allerdings unterscheiden zwischen denen, die eine Therapie beginnen und denen, die bereits unter Therapie sind. Jeder, der eine Therapie beginne, nehme zunächst etwas zu, weil HIV den Körper stark herausfordere. Doch die Daten legen nahe, dass eine signifikante Gewichtszunahme erfolgt, bloß weil das Regime gewechselt wurde.
Die Frage, die sich Medizinern dabei stellt, ist die nach möglichen Langzeitfolgen, die die ge-steigerte Lebenserwartung womöglich beeinflussen. Eine erste Analyse aus den USA zu Daten von mehr als 30.000 Menschen mit HIV zeige einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Integrasehemmern und kardiovaskulären Ereignissen, also Herzinfarkt, Schlaganfall oder ähnliche Erkrankungen.
Zudem gebe es Auswertungen südafrikanischer Studien, die nicht nur die Gewichtszunahme bestätigten, sondern auch nahelegten, dass diese Gewichtszunahme zu mehr Insulinresistenz und damit zu einem erhöhten Diabetes-Risiko führe. Das wiederum erhöhe die Gefahr, einen Herzinfarkt zu erleiden. Allerdings gebe es in der Forschung schon lange eine Diskussion über den Zusammenhang zwischen antiviralen Medikamenten und Herzinfarkt. Diese viele Jahre zurückliegende Untersuchung sei kürzlich noch einmal evaluiert worden und habe diesen Zusam-menhang auch mit alten HIV-Medikamenten bestätigt.
Auch in der Bonner Gruppe, die sich insbesondere mit der Leber beschäftigt, haben laut Rockstroh Ultraschall-Untersuchungen bei Menschen, die keine Hepatitis haben und bei denen kein Alkoholmissbrauch vorliegt, gezeigt, dass Personen, die Integrasehemmer oder TAF bekämen, eine stärkere Leberverfettung aufwiesen. Käme diese mit Fibrosen zusammen, könne dies tat-sächlich zu nennenswerten Lebererkrankungen führen. Fettlebern seien in den USA inzwischen der häufigste Grund für Organtransplantationen.
In Bezug auf Depressionen gebe es Untersuchungen, dass zirka drei Prozent der Patienten, die die zweite Generation der Integrasehemmer einnehmen, die Behandlung wegen auftretender Alpträume, Schlaflosigkeit, Psychosen und ähnlichen Dingen abbrechen.
Insofern sollte man laut Rockstroh in die Diskussion darüber einsteigen, was diese Erkenntnisse bedeuten. Die Fragen seien, ob dies etwas ist, das alle betrifft, ob es bestimmte Risikofaktoren dafür gebe und wie man damit im weiteren Sinne umgehen könne.
Siegfried Schwarze führt in seinem Impulsvortrag verschiedene Thesen an, die seine Position belegen sollen.
Die erste These besagt, dass Studien nichts über den Einzelfall aussagten. In Studien würden Daten vieler Individuen zusammengefasst und statistisch verarbeitet. Daraus könnten keine Aus-sagen über den Einzelfall abgeleitet werden. Andererseits gebe es immer auch den einen oder die eine Patient*in, bei dem/der alles anders sei. Dies sind aber, statistisch betrachtet, Aus-nahmen. Zudem liefen viele Studien zu HIV in den USA beziehungsweise in Südafrika. Dort herrschten jedoch andere epidemiologische, soziale und gesundheitspolitische Verhältnisse, die nur bedingt auf Deutschland übertragbar seien.
These zwei besagt: Menschen mit HIV unterscheiden sich von Menschen ohne HIV in mehr als nur dem HIV-Status, zum Beispiel darin, ob er oder sie verrentet oder noch erwerbstätig ist. Es werde versucht, diese Faktoren aus den Studien herauszurechnen, doch das sei nicht immer möglich. Ein Arzt in den USA habe mal formuliert, Menschen mit HIV seien durchschnittlich „more pleasure oriented and thrill seeking“, führten also insgesamt einen etwas riskanteren Lebenswandel als die Allgemeinbevölkerung. Das könne vielleicht auch eine Ursache für den Erwerb ihrer HIV-Infektion gewesen sein.
These drei: Die HIV-Diagnose lasse niemanden kalt. Entweder die Betreffenden nähmen die Nachricht als „Schuss vor den Bug“ wahr und zum Anlass, ihre bisherige Lebensweise zu über-denken. Oder aber die Reaktion sei: „Naja, jetzt ist eh alles egal, dann kann ich auch alles mit-nehmen und größere Risiken eingehen.“ Meistens träten beide Reaktionen auf, allerdings in verschiedenen Lebensabschnitten.
These vier: Menschen mit HIV alterten zwar nicht schneller, aber altersbedingte Veränderungen würden oft früher festgestellt, weil Menschen mit HIV in der Regel engmaschiger und umfangreicher medizinisch überwacht würden.
Abschließende These: „Wir haben keine Ahnung, davon allerdings jede Menge.“ Ob Menschen mit HIV anders oder schneller alterten und ob dann daran das Virus, der Lebenswandel oder die Medikamente schuld seien, das wisse man nicht. Daher sei sein Fazit: „Nicht den Leben mehr Jahre, sondern den Jahren mehr Leben geben.“
Harriet Langanke sagt, dass die Nebenwirkungen von HIV-Medikamenten immer schon da gewe-sen seien, in ihrer Wahrnehmung habe sich aber das Reden darüber in den letzten Jahren ver-ändert. Hätten bislang die Behandlungen gut angeschlagen, seien die Nebenwirkungen oft eher unter den Tisch gefallen. Es sei aber wichtig, nun mehr darüber zu reden, denn das habe ja sehr viel mit Lebensqualität zu tun.
Wicht fragt, ob „wir vielleicht selber schuld sind, dass die Nebenwirkungen tabuisiert wurden, weil wir die Geschichte erzählen wollten von: ‚Mit HIV kann man heute super leben‘?“
Schwarze meint, es habe am Anfang eine Tendenz gegeben, mit den Nebenwirkungen Angst zu machen nach dem Motto: „Nehmt Kondome, sonst handelt ihr euch diese furchtbare Infektion ein, wo die Medikamente diese schrecklichen Nebenwirkungen haben.“ Und als deutlich geworden sei, wie erfolgreich die Therapie tatsächlich ist, sei man von einem Extrem ins andere gefallen und hat gesagt: „Lasst euch unbedingt sofort behandeln, die Therapie ist super und hat überhaupt keine Nebenwirkungen.“ Die Wahrheit liege aber dazwischen.
Rockstroh ruft noch einmal die Entwicklungsgeschichte der HIV-Medikamente in Erinnerung. Früher habe es häufig trotz Medikation virologisches Versagen gegeben und die Nebenwirkun-gen seien so heftig ausgefallen, dass man abwägen musste zwischen Therapie und Einschränkun-gen der Lebensqualität. Inzwischen rede man bei HIV von einer behandelbaren Infektion. Menschen, die sich mit 25 oder 30 infizierten, nehmen für die nächsten 40, 50 Jahre diese Medika-mente. Medikamente würden aber nicht erst nach 50 Jahren Tests zugelassen, sondern nach zwei Jahren. Man müsse sich mit der Frage beschäftigen, was diese Medikamente über 50 Jahre im Körper machen. Man brauche eine Langzeitüberwachung. Man müsse aber auch bedenken, dass es HIV-indizierte Gesundheitsveränderungen gebe, die Menschen ohne HIV nicht aufwiesen. Entzündungen am Gefäßsystem seien zum Beispiel die Folge der durch HIV ausgelösten fortgesetzten Immunaktivierung, die auch trotz Viruslastunterdrückung im Körper stattfindet. Es kämen weitere Faktoren bei Menschen mit HIV hinzu wie ein höherer Raucheranteil und Beein-trächtigungen der mentalen Gesundheit durch Stigmatisierung und Depressionen.
Schwarze argumentiert, dass man besonders wegen dieser zusätzlichen Faktoren viel stärker auf das individuelle Risiko des Einzelnen schauen müsse, als auf den Durchschnitt der Patienten.
Wicht fragt, ob vermehrt Langzeitschäden festgestellt würden, von denen man bisher nicht gewusst habe oder die man nicht habe sehen wollen.
Rockstroh bestätigt, man sehe mehr kardiovaskuläre Ereignisse bei den Patienten, das sei eindeutig. Und das in jüngeren Jahren. Man müsse nun überlegen, wie man dem begegne.
Stefan Nagel aus dem Publikum weist darauf hin, dass das erhöhte kardiovaskuläre Risiko bei Integrase-Inhibitoren multikausal sei, also viele Gründe habe. Man müsse sich das sehr genau anschauen, auch vor dem Hintergrund, dass das erhöhte Risiko in den ersten zwei Jahren auftre-te, danach aber verschwinde.
Annette aus dem Publikum gibt zu bedenken, dass an den Zulassungsstudien in erster Linie junge, gesunde Männer teilnehmen, bei denen das Ergebnis zu den Medikamenten dann lautet: „effektiv und generell gut verträglich“. Das Patient*innenkollektiv sei aber viel diverser und dort träten dann ganz andere Ergebnisse auf. Sie fordert daher eine diversere Ausrichtung auch der Zulassungsstudien.
Schwarze stellt immer wieder fest, dass sich Patienten mit ihren Beobachtungen zum Beispiel in Bezug auf Gewichtszunahme gegenüber ihren Ärzt*innen oft nicht erstgenommen fühlten.
M. S. aus dem Publikum erzählt, er habe ähnliche Erfahrungen als Patient gemacht, rate anderen aber dazu, als Patienten beharrlich zu bleiben.