HIV-Therapie: Long-Acting-Regimes: Fluch oder Segen?
Jeanne Turczynski führt in das Thema ein mit einem kurzen Sachstandsbericht: „Seit Mai 2021 gibt es in Deutschland zugelassen die erste Long-Acting-Therapie, zwei Depot-Spritzen im Ab-stand von zwei Monaten, intra-muskulär. Diese ersetzen die tägliche Einnahme von Tabletten. Das wurde groß gefeiert damals als ‚Durchbruch‘, ‚neue Wege in der HIV-Therapie‘ und ‚vielver-sprechende Entwicklung‘. Heute, anderthalb Jahre später, ist die Frage, wie bilanzieren wir das denn? Carolynne Schwarze-Zander aus der Gemeinschaftspraxis am Kaiserplatz in Bonn sagt, Long-Acting ist ein Segen. Auf der anderen Seite sitzt Dr. Ulrike Haars, niedergelassene Ärztin aus Krefeld, die sagt: ‚Die Erwartungen wurden bisher nicht erfüllt.‘ Co-Chair Stefan Gerich von der Aidshilfe NRW bekommt selber Long-Acting seit einem halben Jahr und wird davon erzäh-len.“
Dr. Carolynne Schwarze-Zander | Gemeinschaftspraxis am Kaiserplatz | Bonn
Dr. Ulrike Haars | Infektiologie Krefeld
Co-Chair: Stephan Gellrich | Aidshilfe NRW | Köln
Moderation: Jeanne Turczynski
Dr. Carolynne Schwarze-Zander beginnt ihren Impulsvortrag: „Unser Ziel ist eigentlich, dass HIV im Leben von Menschen, die mit HIV leben, eine besonders kleine Rolle spielt. Wie können wir das erreichen? Wir gehen mal zurück ins Jahr 1996 und zur Einführung der Protease-Inhibitoren. Es gelang dadurch, bei den meisten Menschen, die mit HIV leben, eine suffiziente Virus-Depression zu erreichen. Der Nachteil: viele Tabletten, die mehrfach am Tag genommen wer-den musste. Dann kam das Single-Tablet-Regime: Eine Tablette, einmal am Tag. Schon ein Rie-senerfolg. Trotzdem: An diese eine Tablette muss gedacht werden. Und sie steht zuhause rum. Seit Mai dieses Jahres nun der Riesen-Durchbruch mit den Injectables: Ein Medikament, das intramuskulär appliziert wird. Ich muss acht Wochen nicht drüber nachdenken. Ok, acht Wo-chen minus drei, weil es vielleicht Nebenwirkungen gibt. Aber den ganzen Rest der Zeit muss ich an nichts denken.
Eine Umfrage unter Menschen, die mit HIV leben, hat gezeigt, was diese sich von der Therapie erwarten. Der erste Punkt: weniger Langzeitunverträglichkeiten. Wohlgemerkt nicht Nebenwir-kungen, sondern Unverträglichkeiten. Was meinen denn die Menschen mit Unverträglichkei-ten? Ist es nicht vielleicht eine Projektion unserer Ängste als Ärzt*innen auf die Patienten? Weil wir sagen, bitte gehen Sie zum Kardiologen, bitte gehen zur Knochendichtemessung, bitte geben Sie Urin ab, und so weiter. Vielleicht sollten wir Ärzt*innen mal darüber nachdenken, was wir an unseren Ängsten vor Unverträglichkeiten auf die Menschen mit HIV übertragen. An zweiter Stelle bei den Umfrageergebnissen steht, dass 60 Prozent sich eine langwirksame Therapie wünschen.
Voraussetzung für diese neue Therapie ist, dass die zu behandelnde Person unter einer suppri-mierten Viruslast stabil ist. Es gibt ein mögliches Oral-Lead-In, wenn man das möchte. Doch die meisten wollen einfach mit der Therapie starten: Eine Spritze, nach vier Wochen noch eine Spritze, und dann sind wir schon bei einem Abstand von alle zwei Monate. Also wirklich einfach: Ich spritze rechts, ich spritze links, und auf Wiedersehen.
Was sind die Voraussetzungen? Stabile Suppression der Viruslast und es dürfen keine Resisten-zen vorbestehen. Allerdings ist das eigentlich keine Besonderheit: Wir stellen ja Patienten auch nicht auf eine orale Therapie ein, wenn die Therapie nicht wirkt. Was sind die Wechselwirkungen? Es sind ganz klassisch immer die gleichen Gruppen, nämlich Tuberkulose-Medikamente und Antiepileptika, mit denen man aufpassen muss, auch mit Cortison.
Wer profitiert von dieser Therapie? Ich habe drei Gruppen identifiziert: 1. Es gibt medizinische Gründe, 2. Angst vor Stigmatisierung und 3. ein sehr aktiver Lebensstil. Medizinische Gründe sind zum Beispiel, dass jemanden die Tabletten nicht schlucken kann oder eine Malabsorption hat und die Medikamente wieder erbricht. Oder die Medikamente werden nicht richtig einge-nommen oder Patienten können sich nicht an Zeiten halten. Oder Menschen sind einfach mü-de, Medikamente zu nehmen, weil sie schon jahrelang Medikamente genommen haben.
Das Zweite ist Angst vor Stigmatisierung. Das spielt immer noch eine ganz, ganz große Rolle in unserer Gesellschaft. Wir sind immer noch nicht da, wo wir sein sollten, wenn wir von Entstig-matisierung von HIV sprechen. Das spielt auch eine ganz große Rolle für Menschen, die aus Endemiegebieten kommen wie Subsahara-Afrika, die zum Teil in Flüchtlingsunterkünften leben. Wo werden da die Medikamente abgestellt? Für solche Frauen ist es eine Riesenhilfe.
Drittens schließlich jemand, der super viel unterwegs ist, ein Nomadenleben führt und viel zwischen Zeitzonen reist. Der braucht nicht mehr drüber nachdenken, wann er seine Tabletten einnehmen muss, nur alle acht Wochen zur Injektion kommen.
Es gibt allerdings bereits drei Faktoren, die laut ersten Studien bei den Injectables zu Proble-men und zu Resistenzen geführt haben: Der erste Faktor sind Rilpivirin-Resistenzmutationen, der zweite ist ein bestimmter HIV-Subtyp, nämlich A6A1, bei dem Resistenzen aufgetreten sind, und der dritte Faktor ist ein Body-Mass-Index (BMI) von über 30. Warum der BMI ein Problem ist, ist allerdings noch nicht so ganz geklärt. Es ist möglich, dass bei mehr Körpermasse auch eine längere Nadel oder eine größere Konzentration nötig wären. Wichtig zu wissen ist, dass nicht nur einer dieser drei Faktoren problematisch ist, sondern erst die Kombination von mindestens zwei dieser Faktoren. Erst wenn bei einem Patienten zwei Faktoren vorliegen, sollte von einer Injektionstherapie abgesehen werden. Das ist bisher die einzige Einschränkung zur Anwendung der Injectables.
Dr. Ulrike Haars vertritt die Gegenposition und wirft einen kritischen Blick auf die Injektionsthe-rapie. Ihr erstes Gegenargument ist der hohe Zeit- und damit Kostenaufwand für niedergelasse-ne Ärzt*innen, bis ein*e Patient*in auf Long-Acting eingestellt ist. Und auch für die Pati-ent*innen ist der Aufwand groß: Es sind mindestens sechs Termine bei der Schwerpunktpraxis zu absolvieren, die gerade für Menschen auf dem Land mitunter nur mit langen Anfahrtswegen erreichbar sind. Auch müssen in der Praxis entsprechende Voraussetzungen herrschen. Es müssen liegen vorhanden sein, die man ganz flach machen kann, damit es für die zu behandelnde Person nicht unnötig schmerzhaft wird. Zudem weist sie darauf hin, dass wesentlich mehr po-tenzielle Wechselwirkungen mit anderen Substanzen geben könnte, so zum Beispiel unter anderem mit Ginkgo-Präparaten oder mit Kokain. Und schließlich gibt es noch keine Long-Acting-Therapie für HIV-infizierte Kinder und Jugendliche, für die das eine ganz große Erleichterung sein könnte.
Haars‘ Fazit: Long-Acting ist ein toller Prototyp, aber mit sehr vielen Kinderkrankheiten. Wir warten alle darauf, dass es für alle Beteiligten einfacher wird.
Stephan Gellrich schildert seine Erfahrungen mit der Long-Acting-Therapie. Zunächst ist ihm wichtig, deutlich zu machen, dass man sich vor einem Umstieg auf Long-Acting umfassend informieren sollte über den aktuellen Wissensstand zu dieser Therapieform. Er selbst wechselte vor ca. einem halben Jahr, weil die Single-Tablet-Therapie bei ihm mit starken gastro-internalen Nebenwirkungen verbunden war. Mit der Spritzentherapie sind diese Probleme für ihn Vergangenheit. Was die Terminierung und die Logistik dieser Therapieform anbetrifft, so empfiehlt Gellrich, am Anfang mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin einen Jahresplan aufzustellen. Das sei einmal viel Arbeit, aber lohne sich. Auch habe er mit der Praxis und der Apotheke Regelungen getroffen, die die Behandlungsabläufe vereinfachen. Zum Beispiel muss er das Medikament nun nicht mehr selber abholen und in die Praxis tragen, sondern die Apotheke liefert es direkt zur Praxis. Was die Schmerzen nach den Infektionen betrifft, so habe er sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Beim ersten Mal habe es zwei, drei Tage lang gezwie-belt, beim zweiten Mal hat es gar nicht weh getan und beim dritten Mal konnte er eine Woche lang nicht laufen. Beim dritten Mal sei allerdings auch die ganze Atmosphäre in der Praxis sehr unruhig gewesen, Gellrich habe sich nicht entspannen können. Das habe sicher auch zu den Folgeschmerzen geführt. Er empfiehlt, in solchen Fällen das Gespräch mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin zu suchen und für ein entspannenderes Setting zu sorgen.
Auf eine Nachfrage aus dem Publikum betont Haars, dass es mit Long-Acting noch eine Gefahr gebe, die man nicht unterschätzen solle: Manche Long-Acting-Patient*innen freuen sich so sehr darüber, dass sie nun frei von dieser täglichen Erinnerung an die Tabletteneinnahme sind, dass sie mitunter vergessen, bei anderen Ärzt*innen auf ihre HIV-Infektion hinzuweisen und so mögliche Wechselwirkungen zum Beispiel durch eine Cortison-Behandlung bei einem Bandscheibenvorfall riskieren.
Schwarze-Zander führt noch eine Long-Acting-Studie aus Glasgow an, die unter anderem besagt, dass nur 2,8 Prozent der Patient*innen es nicht schaffen, sich innerhalb des vorgegebenen Zeit-fensters ihre Folgeinjektion abzuholen. Bei Befragungen zu Schmerzen an der Einstichstelle geben 55 Prozent an, dass sie dies störe, allerdings sagen auch 30 Prozent, dass sie gar nichts mer-ken. Und bei der Frage nach ihrem bevorzugten Therapie-Regime geben 99,3 Prozent der Pati-enten Long-Acting an: „Und ich glaube, das entspricht auch unserer Wahrnehmung.“
Turczynski stellt zum Schluss die Frage nach der Zukunftsperspektive für Long-Acting.
Haars äußert die Hoffnung auf ein Implantat, um die Probleme mit der Injektion zu eliminieren. Denn bislang entsteht im Körper durch die Injektion eine mitunter schmerzhafte Depot-Kugel, aus der sich der Körper nach und nach die Wirkstoffe herauszieht.
Helfen könne auch, wirft Gellrich ein, dass das gekühlte Medikament vor der Verabreichung auf Zimmertemperatur gebracht wird, damit es weniger schmerzhaft ist.
Schwarze-Zander wirft noch ein, dass bereits erste Präparate getestet werden, die eine bis zu sechsmonatige Wirksamkeit versprechen.